Dìng shì (定式) als ein Weg zum Erlernen von Tàijíquán Grundlagen

Ein Blickpunkt in Wudang-Tempel„Entdecken Sie auf einer Rundreise die schönsten Reiseziele der Erde mit ihren einzigartigen kulturellen und landschaftlichen Höhepunkten. So lernen Sie die unterschiedlichen Facetten Ihrer Urlaubsregion kennen und tauchen ein in die Kultur und Lebensweise des Landes.“ (Auszug aus einer Werbung)

Tàijíquán Soloform1 durch Dìng shì (Verweilen in Stellungen/Figuren) zu praktizieren ist vergleichbar mit einer solchen Rundreise. Während wir uns bei einer Rundreise von einem Ort zu einem anderen Ort bewegen und dort verweilen, um seinen „einzigartigen kulturellen und landschaftlichen Höhepunkten“ kennenzulernen und zu genießen, bewegen wir uns bei Tàijíquán Soloformpraxis von einer Stellung zur Nächsten. Durch das Verweilen in Stellungen/Figuren lernen wir die körperliche Struktur einzelner Stellungen/Figuren kennen, tauchen in ihre innere Eigenschaften ein und genießen die dadurch entstehende Entspannung, Stabilität und Ruhe. Obwohl diese Praxis in Wirklichkeit eine zeitraubende, harte Arbeit ist und Selbstdisziplin verlangt, ist es wichtig, dass wir durch die mentale Einstellung diese Praxis auch genießen2können.

Sich bewusst/wahrnehmend bewegen

Die Bewegung von einer Stellung zur Nächsten soll bewusst bzw. wahrnehmend ausgeführt werden. Doch was heißt „sich bewusst bzw. wahrnehmend bewegen (moving with awareness)“? Yang Banhou3 zerlegte dies zunächst in zwei Begriffe: Bewegung (運動– yùndòng ) und Bewusstsein/Sinneswahrnehmung (知覺 – zhījué). Dann untersuchte er deren Ursprünge.

„… there will be no martial aspect unless we seek the source of movement, and there will be no civil aspect unless we grasp the basis of awareness. With these things, then there will be moving with awareness.
[
To break movement (運動) and awareness (知覺) into their component parts results in: moving = the activation () of movement + the act () of moving, and awareness = the perception () that something is + the realization () of what it is. In short, moving with awareness.]
If there is activation and perception, there will be action and realization. If there is no activation or perception, there will be no action or realization. When activation is at its height, action is initiated. When perception is fully lucid, there is realization. Action and realization are the easy part. Activation and perception are tricky.
First strive to move with awareness for yourself, grasping it within your own body, then naturally you will be able to spot it in the opponent. If on the other hand you try to find it in opponents first, you will probably never find it in yourself. You have to be able to understand this concept in order to be able to identify energies.“
4

Um eine Bewegung zu aktivieren, müssen wir zunächst die Absicht haben, uns zu bewegen.5 Dies können wir am Besten mit einer sogenannten Reflexbewegung kontrastieren. Eine Reflexbewegung ist eine unbeabsichtigte Bewegung, deshalb können wir sie nicht kontrollieren, weder die Richtung noch die Geschwindigkeit noch die Art und Weise der Ausführung. Dagegen wissen wir bei einer bewussten/beabsichtigten Bewegung die Richtung (von einer Endstellung als Ausgangspunkt zur nächsten Endstellung als Ziel) und wir können ihre Geschwindigkeit und die Art und Weise, wie wir sie ausführen, bestimmen.6

Tàijíquán-Bewegungen basieren auf dem Prinzip „When one part moves, every part moves. When one part is still, every part is still.“7 Dabei sollen wir darauf achten, dass die Körperteile miteinander verbunden und am ‚Ende‘ der Bewegungen ihre Ziele trotz verschiedener Ausgangspunkte und Ziele zur gleichen Zeit erreichen. Oder wie Wee Kee Jin in seinem Aufsatz „Practising the Classics“ schreibt:

„The ‘classics’ state that when one part of the body moves every part of the body moves, when one part changes – every part changes along with it, and when one part arrives – every part arrives together. Therefore every movement originating in the legs must ripple through the body to produce the movement in the arms. This releasing of the body trunk is produced by mind awareness visualising a melting sensation as it travels through the body muscles. Only then will the movements of the legs be connected to the arms and the whole body change as one.8

Die Soloform mit Dìng shì zu üben ist hierzulande meines Wissens kaum bekannt9. Was ab und zu vorgekommen war, dass die Tàijí-Lernende im Verlauf der Soloformtraining in einer Lerngruppe gezwungenermaßen Stellungen halten mussten, wenn der Lehrer oder die Lehrerin herumging, um die Körperhaltung der Lernenden bei diesen Stellungen zu korrigieren. Dementsprechend ist die Erwartungshaltung der Übenden, dass der Lehrer oder die Lehrerin möglichst schnell mit diesen Korrekturen fertig wird.

Auch wenn Dìng shì im Allgemeinen Stellungen/Figuren halten bedeutet, verstehe ich darunter das seitens der Übenden bewusste, beabsichtigte Verweilen in Stellungen/Figuren im Verlauf einer Soloform. Das Halten einer beliebigen Tàijíquán-Stellung/- Figur unabhängig vom Verlauf einer Soloform würde ich dagegen Taiji-Zhàn-Zhuāng10 oder allgemein Zhàn-Zhuāng nennen. Insofern verkörpert Dìng shì eine Kombination von Soloform und Taiji-Zhàn-Zhuāng.

Die Soloform enthält alle Tàijíquánstellungen, -bewegungen und –schritte. Obwohl wir die Soloform langsam und gleichmäßig ausführen, haben wir wenig Zeit, um die Eigenschaften einzelner Endstellungen zu untersuchen bzw. unseren Körper und Geist nach den Tàijíquánanforderungen zu richten bzw. zu korrigieren. Das Verweilen in einzelnen Stellungen bietet uns die erforderliche Zeit an, diese Anforderungen evtl. durch Selbstkorrekturen zu erfüllen.

Um die Soloform korrekt zu üben, müssen wir nach Wee Kee Jin11 folgende Voraussetzungen erfüllen:

    • Innere Ruhe ( Jìng)
    • Stille ( dìng)
    • Entspannung ( sōng)
    • Sinken ( chén)

Ein ruhiger Geist mit einer nach innen gerichteten Aufmerksamkeit ermöglicht uns eine geschärfte Körperwahrnehmung, so dass wir unsere Bewegungen und Körperzustände – unter Anderen Spannungen – richtig fühlen und bewusst regulieren können. Die Stille im Sinne von ‚körperlich stabil, immer im Gleichgewicht stehen und geistig konzentriert sein‘ verhindert, dass unser Körper ins Wanken gerät und unsere Gedanken schweifen. Das Loslassen zur Aufrechterhaltung der Körperstruktur unnötiger Spannungen ermöglicht uns, alle Teile der Körperstruktur miteinander zu verbinden, und bildet die Voraussetzung für das Sinken. Die Entspannung geschieht von unten, also von Füßen, nach oben bis auf die Hüfte. Es geht dann weiter mit Lockerung der Schultern, Ellenbogen und Handgelenken. Dagegen findet das Sinken von oben, also vom Scheitelpunkt auf dem Kopf, nach unten bis zu den Fußsohlen bzw. Yǒngquán(Sprudelnde Quelle)-Punkte dann in den Boden statt. Die Vorstellung, dass eine Tasse warmes Wasser auf dem Scheitelpunkt des Kopfes gegossen wird und das Wasser nach unten über den Körper, die Beine und die Füße und schließlich in den Boden abläuft, kann den Prozess des Sinkens veranschaulichen und beim Üben helfen.

Endstellungen in einer Soloform

„Fu Zhongwen uses a number of terms that require additional explanation. One of these is the term for what is typically called the ending postures of the forms, that is, the terminus point of a given posture such as White Crane Displays Wings. The term that Fu Zhongwen uses for these ending postures is dingdian>, or „fixed points.“ In Taijiquan, however, these „fixed points“ are not really fixed, and „ending postures“ are not really the end of anything. Fu Zhongwen therefore advises the reader that “ as each movement reaches a fixed point (dingdian), one must accomplish what is called „seems to stop, does not stop.“ The dingdian, then must be understood to be both the culmination of one sequence as well as the beginning of the next.“12(Louis Swaim)

Wenn wir von Endstellungen in der Soloform reden, sollen wir immer im Kopf haben, dass sie sowohl Höhepunkte von Bewegungen als auch Keime von nächsten Bewegungen verkörpern (mit der Ausnahme der Endstellung hé tài jí – Taiji beenden. Sie kann jedoch bei einer anschließenden Wiederholung wiederum als Anfang dienen). Diesen Endstellungen/Figuren werden bestimmte Namen zugewiesen.

In stillness, be like a mountain. In movement, be like a river.13

Tàijíquáns Soloform mit Dìng shì zu üben heißt sich bewusst von einer Stellung zur nächsten Stellung bewegen, um dann in dieser Stellung zu verweilen, wie ein Berg stabil zu stehen, bevor wir uns weiter fließend wie ein Fluss zur nächsten Stellung bewegen.

Üben wir in einer Gruppe, verweilen wir in jeder Endstellung 5-6 Atemzüge(als Daumenregel) lang. Allein üben wir so lange/kurz wie nötig14, bei Anfängern vermutlich erst länger dann kürzer bis zum normalen Verlauf einer Soloform.

Mit dem Verweilen in Stellungen (Dìng shì) haben wir (die Anfänger) mehr Zeit, die Körperstukturanforderungen des Tàijíquáns besser zu erfüllen und den Prozess der Entspannung bzw. des Loslassens und des Sinkens besser zu fühlen und zu verstehen.15

Wie sollen wir still (und stabil) wie ein Berg stehen?

Welche Anforderungen des Tàijíquáns müssen wir beim Halten von Endstellungen erfüllen? Yang Chengfu fasste die Anforderungen aus den sog. Tàijíquán Klassischen Schriften zusammen als „Wichtige Taiji-Punkte“:

    1. Xu Ling Ding Jin / xū líng dǐng jìn / 虛靈頂勁: Den Kopf gerade aufrichten, sodass der spirituelle Geist (Shén ) den Scheitel erreicht.
    2. Han Xiong Ba Bei / hán xiōng bá bèi / 含胸拔背: Die Brust leeren und den Rücken ausbreiten
    3. Song Yao / sōng yāo / 鬆腰: Die Taille (den unteren Rücken) entspannen/loslassen.
    4. Fen Xu Shi / fēn xū shí / 分虛實: Leer und voll unterscheiden.
    5. Chen Jian Zhui Zhou / chén jiān chuí zhǒu / 沉肩垂肘:- Die Schulter sinken und die Ellenbogen herunterhängen lassen.
    6. Yong Yi Bu Yong Li / yòng yì bù yòng lì / 用意不用力: Benutze die Absicht und nicht die rohe Kraft.
    7. Shang Xia Xiang Sui / shàng xià xiāng suí / 上下相随: Den oberen mit dem unteren Teil des Körpers koordinieren.
    8. Nei Wai Xiang He / nèi wài xiāng hé / 内外相合: Bringe die Innen- und die Außenseite im Einklang.
    9. Xiang Lian Bu Duan / xiāng lián bù duàn / 相连不断: Bewege ohne Unterbrechung.
    10. Dong Zhong Qiu Jing / dòng zhōng qiú jìng / 动中求静: Die innere Ruhe in der Bewegung suchen.

Die Nummerierung ist nur als eine Aufzählung und keineswegs als eine Reihenfolge zu verstehen.

Beim Halten von Endstellungen sind m. E. die ersten fünf Punkte, die dazu beitragen, dass wir stabil stehen können.

Der sechste Punkt ist ein Muss beim Tàijíquán, sowohl in der Bewegung als auch im Stillstehen (s. die abschließende Bemerkungen und Überlegungen). „Den Kopf gerade aufrichten“, „Die Brust leeren und den Rücken ausbreiten“, „Die Taille bzw. den unteren Rücken loslassen/entspannen (und die Hüftgelenke auf ihre Sockel setzen)“, „Die Schultern sinken und die Ellenbogen fallen lassen“, alle sollen zuerst als Absicht vorkommen, dann richten wir unsere Aufmerksamkeit auf die entsprechenden Körperteile und lassen es alles geschehen. Dabei sollen die ganzen Prozessen ohne Kraftanstrengungen geschehen. Am Beispiel von „Den Kopf gerade aufrichten, sodass der spirituelle Geist (Shén ) den Scheitel erreicht“ schreibt Chen Weiming klar und deutlich, was Yang Chengfu ihm diktiert hat:

„You must not use exertion. If you use exertion, your neck will be straining, and energy and blood will be unable to flow through. There must be an intention of being forceless and natural. If you do not have this quality of forcelessly pressing up your headtop, then spirit cannot be raised.“16

Damit der spirituelle Geist (Shén ) den Scheitel erreichen kann, müssen wir jedoch nicht nur den Kopf aufrichten, sondern auch das Steißbein einziehen.17 Wie ziehen wir aber das Steißbein ein? Dies geschieht durch ein leichtes Kippen der Hüften nach vorn und nach oben sowie gleichzeitig ein leichtes Einziehen der Hüften in den Bauchraum.18 Meiner Erfahrung nach geschieht dies mühelos, nachdem wir unsere Taille bzw den unteren Rücken und Hüften entspannt haben. Durch das Kippen und Einziehen der Hüften in den Bauchraum verändert sich die Position des Akupunkturpunktes Huìyīn 会阴(zwischen Geschlechtsorgan und Anus) relativ zum Akupunkturpunkt Báihuì 白会 (auf dem Kopf), sodass beide Akupunkturpunkte nun eine senkrechte Linie und dadurch die zentrale Körperachse bilden. Das Bild19 oben zeigt die Wirbelsäule vor und nach dem Kippen und dem Einziehen der Hüften in den Bauchraum sowie dem Aufrichten des Kopfes.

Der Punkt 4 „Unterscheide zwischen leer und voll“ in diesem Zusammenhang bezieht sich nicht nur auf die Gewichtung des Körpers auf die Beine, sondern auch auf die Relation zwischen Armen und Beinen nach dem Überkreuzprinzip, z. B. wenn das rechte Bein voll ist, dann ist der linke Arm auch voll, während das linke Bein leer ist und dementsprechend ist der rechte Arm auch leer20, s. Bild links. (Bildquelle: Cheng Man-ch’ing & Robert W. Smith, T’ai Chi – The „Supreme Ultimate“ for Health, Sport and Self-Defense. Die Beschriftung auf dem Bild stammt von mir – JS.)

Aber was heißt denn hier „leer und voll“?

Leer bedeutet nicht, dass die damit bezeichneten Stellen komplett schwach sind, sondern dass die Energie dort bereit sein soll, sich zu bewegen. Voll bedeutet, dass sich der spiritueller Geist auf die damit bezeichneten Stellen konzentrieren soll.21

Verbinden wir diesem Punkt mit den sog. „drei äußeren Harmonien (wài sān hé 外三合)22„, dann ergeben sich daraus drei überkreuzweise Verbindungen

    1. Die Schultern mit den Hüften verbinden (肩與胯合:jiān yǔ kuà hé): den linken Schulter mit der rechten Hüfte, den rechten Schulter mit der linke Hüfte
    2. Die Ellenbogen und Knie verbinden (肘與膝合:zhǒu yǔ xī hé): den linken Ellbogen mit dem rechten Knie, den rechten Ellbogen mit dem linken Knie
    3. Die Hände mit den Füßen verbinden (手與足合:shǒu yǔ zú hé): die linke Hand mit dem rechten Fuß, die rechte Hand mit dem linken Fuß

Damit erfüllen wir auch die siebte Anforderung „Den oberen mit dem unteren Teil des Körpers koordinieren“.

Unter Beachtung dieser sieben Punkte durchlaufen wir den oben schon genannten Prozess der Entspannung und des Sinkens. Am Ende des Prozesses fühlen wir an den Fußsohlen, dass der Druck beider Füße, bei einer bestimmten Stellung z. B. „Die chinesische Laute(pipa) spielen“ (s. Bild oben) des gewichteten Fußes, gegen den Boden zunimmt. Dies ist ein Zeichen, dass unser Körper gewissermaßen entspannt und sinkt. Um so mehr der Körper entspannt und sinkt, desto mehr spüren wir den Druck unserer Füße gegen den Boden.

Doch wir sollen nicht nur den Druck unserer Füße gegen den Boden spüren, sondern auch bzw. vielmehr die aufsteigende Kraft und Energie, oder in der Formulierung von Patrick Kelly:

To understand the second phase, that of sinking, is more difficult. It does not simply mean a settling of the energy field and body as it presses onto the ground, but perhaps the exact opposite – the intensifying and arising of elastic forces and energy on a deeper level replacing the external strength which is simultaneously drained away by the loosening of the body.“23

Aber was ist mit dieser Kraft gemeint, woher kommt sie?

In der Physik und insbesondere in der Biomechanik nennt man diese aufsteigende Kraft „Bo-denreaktionskraft“. Das ist die Kraft, die der Boden auf einen Körper ausübt, sobald der Körper auf dem Boden steht. Während die Gravitation den Körper senkrecht nach unten auf den Boden zieht, übt die Bodenreaktionskraft auf den Körper der Gravitationskraft entgegen senk-recht nach oben aus. Nach dem dritten Newtonschen Gesetzt wirkt auf jede Kraft eine entge-gengesetzte Kraft mit derselben Größe, d.h. die Bodenreaktionskraft entspricht unserem Körpergewicht (Gewichtskraft). Durch die Gravitation bleiben wir auf der Erde stehen und nicht abheben, durch die Bodenreaktionskraft andererseits wird unser Körper nicht platt auf die Erde gedrückt.24

Als Tàijíquán-Übende ist es unsere Aufgabe, diese Tatsache zunächst in unser Bewusstsein hineinzubringen und die Bodenreaktionskraft, die auf unseren Körper ausübt, durch das Fühlen wahrzunehmen. Erst wenn es uns gelingt, diese Kraft durch stetiges Entspannen und Sinken zu fühlen, können wir (als Anfänger) versuchen, sie bewusst wie folgend zu benutzen bzw zu lenken:

First the intention moves, then the power is moved […] Starting from your foot, issue through your leg, directing it at your waist, and expressing it at your fingers. From foot through leg through waist, it must be a fully continuous process…“ 25

Wee Kee Jin nennt diesen Prozess „sich Energie von der Erde leihen“ und beschreibt ihn wie folgendes:

„Sobald das Senken des in Füße und Boden in einer beliebigen Tàijí-Stellung abgeschlossen ist, stellt man sich vor, wie es vom Boden durch Yǒngquán (den Punkt der sprudelnden Quelle) der Füße zurückprallt, die Beine hinauf, durch den Körper, die Schultern, Arme und in die Fingerspitzen.“26

Weiterhin betont Wee Kee Jin die Wichtigkeit des Entspannens und des Sinkens unter Beachtung der o. g. wichtigen Punkte für den Fluss des Qì. Nach der Theorie der Überkreuzausrichtung durchfließt das Qì aus dem linken Fuß bis in die Fingerspitzen der rechten Hand und aus dem rechten Fuß bis in die Fingerspitzen der linken Hand.

Mike Sigman bezeichnet die Bodenreaktionskraft wechselweise als „pushing/opening forces through the body“ und „qi from the earth“ und beschreibt die Verbindung zwischen den beiden Begriffen so:

The Six Harmonies mode of movement employs several tangential, but intrinsic considerations that add to or affect the forces that the body employs. First of all, the qi of the human body is supplemented or augmented by the qi from the Earth and the qi from “Heaven”. The qi from the earth is essentially gravity: gravity supplies the solidity of the ground for pushing/opening forces through the body; gravity also supplies the downward force/pull which allows the body to contract and pull downward. This qi from gravity is said to enter the body at the Bubbling Well (yongquan) point on the bottom of the feet … and so the qi of the human body during a push, for a simple example, is a combination of the mobilized qi of the body (including the elastic potential of the “back-bow” of the spine) and the qi from the Earth.[…]

Another type of force additive is “Jin”, which is a trained force skill in which the mind (the “intent” or “yi”) manipulates the innate force-directing (micro-movements) abilities of the body so that forces from the ground (or the downward gravity force) are aimed as needed, preferably into or with the forces generated by an opponent. Most of the almost magical-appearing displays of force mechanics in Asian martial-arts are demonstrations of the force-direction manipulation that is Jin.“27

Was hat aber das Qì mit der Bodenreaktionskraft zu tun? Ist die Bodenreaktionskraft das Qì? Was für eine Rolle spielt dann Qì in diesem Zusammenhang? Die sog. drei inneren Harmonien28 (nèi sān hé 內三合) lauten:

    1. Das Herz führt die Absicht bzw. die gerichtete Aufmerksamkeit (心與意合 xīn yǔ yì hé)
    2. Die Absicht bzw. die gerichtete Aufmerksamkeit lenkt das Qì (意與氣合 yì yǔ qì hé)
    3. Das Qì (die Energie) leitet die Kraft (氣與力合 qì yǔ lì hé)

Hier stellt das Qì eine Verbindung zwischen dem immateriellen Geist (Bewusstsein und Absicht) und der physischen Kraft her. Das Herz (xīn) will einen Pfad zwischen dem Boden und unseren Fingerspitzen haben und veranlasst die Absicht (yì) diesen Pfad zu bilden. Das Qì bildet dann schließlich diesen Pfad und leitet die Kraft diesem Pfad entlang.29 Da das Qì in diesem Prozess diese Kraft immer leitet und begleitet, bilden das Qì und die Bodenreaktionskraft die zwei (mentale und physikalische) Seiten einer Medaille. So können wir wie Wee Kee Jin und Mike Sigman die Bodenreaktionskraft als „das Qì von der Erde“ bezeichnen. Die durch die Absicht/bewusste Aufmerksamkeit (yì) so gelenkte Kraft nennt Mike Sigman „Jin“, oder im oben zititierten Stelle nennt Patrick Kelly diese Kraft „elastische Krafte“.

Das Stillstehen in einer Endstellung ist also auch eine mentale Übung, um die Wirkung der Erdanziehungskraft und der daraus entstehenden Bodenreaktionskraft auf unseren Körper durch Entspannung und Sinken bewusst zu fühlen und mithilfe von gerichteter Aufmerksam-keit (yì) und Qì zu lenken, vom Fuß bis hin zu Fingerspitzen. Damit ist das Stillstehen in einer Endstellung abgeschlossen.

Das Ende des Stillstehens in einer Endstellung ist der Anfang der bewussten Bewegung zur nächsten Endstellung. Erst die Absicht, dann die Aktivierung der beabsichtigten Bewegung und Wahrnehmung dieser Aktivierung. Sobald diese Aktivierung ihren Höhenpunkt erreicht, entsteht dann die Bewegung und deren Wahrnehmung. Durch „Fallenlassen/Loslassen“ im Sinne von Entspannen und Sinken bekommen wir einen Schwung, der eine Bewegung einleitet30, die eine Position in die andere umwandelt. Beispiel: Ganz am Anfang stehen wir ruhig und gerade mit beiden Fersen der Füße dicht aneinander, das Gewicht gleichmäßig auf beiden Füßen verteilt. Durch ein „Fallenlassen/Loslassen“ beugen sich die Knien und durch die Gewichtsverlagerung auf den rechten Fuß hebt sich die Ferse des linken Fußes, sodass wir den linken Fuß seitlich eine Schulterbreite parallel zum rechten Fuß positionieren können.

Aber wie sollen wir uns bewegen?

Der Spruch „In movement, be like a river“ deutet schon an, dass die Bewegung gleichmäßig fließend, ununterbrochen (bù duàn – 不断), und ruhig (Punkt 9 und 10 oben) verlaufen soll. Weiterhin sollen die Körperteile miteinander verbunden und synchronisiert (gleichzeitig ihre Endpositionen erreichen) werden (Punkt 7). Dadurch, dass wir alle Taijiquanbewegungen (einschließlich physisches Öfnen/Schließen) von der Absicht leiten lassen, befindet sich das Äußere mit dem Inneren im Einklang (Punkt 8). Auf die Einzelheiten der Körperbewegungen in Taiji-Formen verweise ich hier auf das schon genannte Buch von Wee Kee Jin, Tàijíquán Wú wéi – Ein natürlicher Prozess, S. 17 ff. , weil sie den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen würde.

Hier möchte ich nur einen Fehler hervor-heben, den ich (und vermutlich auch mehrere Anfänger wie ich) bei Bewegungen bzw. Gewichtsverlagerungen nach vorn oder nach hinten in einem Bogenschritt machte (und gelegentlich immer noch mache). Statt mich entlang der Mittellinie zu bewegen, verlagerte ich mich von einer Seite zur anderen. Im Bild31 links/oben können wir sehen, welche Bewegung korrekt ist, welche nicht.

Ein weiterer Punkt, den ich hervorheben möchte, ist die Idee von Zheng Manqing, die Tàijíquánbewegungen so auszuführen, als ob wir auf dem Erdboden in der Luft schwämmen.

„It is easy to comprehend that air, like water, is not empty. When you execute each movement, you feel your motion as if you were swimming. […] How does a beginner start to practice this? You must wave the arm and let the palm move against the wind, feeling the air as if it were water. As you make greater progress the air will not only feel heavier than water, it will feel like iron.“32

Das Ziel ist nach Zheng Manqing, dass wir uns in einem realen Kampf leicht, feinfühlig, gewandt und schnell bewegen können, sobald wir die Vorstellung der Luftwiderstand weglassen.33

Dass wir uns auf der Erde in der Luft bewegen ist eine Tatsache. Gelegentlich, bei einem Sturm oder starkem Gegenwind, fühlen wir den Luftwiderstand gegen unsere Bemühung, vorwärts zu gehen. Da wir bei normalen Wetterlagen oder in einem geschlossenen Raum die Luft nicht sehen und nicht fühlen können, vernachlässigen wir diese Tatsache, sodass sie in Vergessenheit gerät. Aber wenn wir unsere Wahrnehmung auf diese Tatsache richten und beim Üben der Soloform versuchen, den Luftwiderstand zu fühlen, wird unsere Sensibilität erhöht. Mit dieser Methode erhöhen wir unsere Sensibilität nicht nur für die Vorgänge in unserem Körper, sondern auch gegenüber dem Luftwiderstand oder, verallgemeinert, der äußeren Kraft.

Wenn es uns aber gelingt, den Luftwiderstand in einer nicht windigen Umgebung zu fühlen, dann können wir erst recht die Kraft und die Bewegungen unseres Partners bei Tuīshǒu(fühlende Hände)-Übungen oder des Gegners beim Kämpfen fühlen und damit seine Absicht durchschauen, sobald ein Kontakt zwischen uns und dem Partner/Gegner hergestellt wird. In Tàijíquán wird diese Fähigkeit Tīngjìn (听劲) genannt. Wortwörtlich bedeutet tīng hören, jìn Fähigkeit, zusammengesetzt Tīngjìn bedeutet die Fähigkeit zu hören, jedoch nicht nur mit den Ohren sondern mit dem ganzen Körper 34

In diesem Sinne ist „das Schwimmen in der Luft“ eine Methode, um Tīngjìn über das Üben der Soloform bzw. durch die bewusste/wahrnehmende Bewegung von einer Stellung zur nächsten Stellung leichter zu erlangen.

Bei allen Übungen im Taijiquan darf eine Sache nicht fehlen: die Verbindung zwischen Körper und Geist. Wie diese Verbindung sein soll hat dieser Aufsatz schon dargestellt. Aber was verbindet den Körper mit dem Geist? Es ist die Wahrnehmung unseres Körpers und bei einer Partnerarbeit oder bei einem Kampf auch die Wahrnehmung der gegnerischen Bewegungen und Kräfte sobald ein Kontaktpunkt hergestellt wird. Dabei gilt es:

„Don’t think, feel!“

(Mr. Lee, gespielt von Bruce Lee, zu seinem Schüler im Film „Enter the Dragon“)

Fußnoten:

  1. Eine Soloform besteht aus seiner Sequenz von mehreren Stellungen/Figuren und deren Übergängen von einer zur nächsten Stellung. In Taijiquan werden die Stellungen/Figuren benannt z.B. „Der weiße Kranich breitet seine Flügel aus“, „Schöne Dame am Webstuhl“ usw.
  2. S. a. Wee Kee Jin, Develop a Good Attitude to Learning Taijiquan, http://www.taijiquan-school-of-central-equilibrium.com/notes/attitude/
  3. Yang Banhou war der 2. Sohn von Yang Luchan, dem Gründer des Yang-Stil Tàijíquán.
  4. EXPLAINING TAIJI PRINCIPLES, attributed to Yang Banhou [circa 1875], translation by Paul Brennan, Sep, 2013. Quelle:https://brennantranslation.wordpress.com/2013/09/14/explaining-taiji-principles-taiji-fa-shuo/. Der von mir hervorgehobene Text ist eine Erläuterung von Brennan und steht eigentlich im Punkt [2] vor dem restlichen Text, der im Punkt [3] steht.
  5. „First in your mind, then in your body(先在心。後在身 – Xiān zài xīn. Hòu zài shēn)“, Wu Yuxiang in Li Yiyu, „WANG ZONGYUE’S TAIJI BOXING TREATISE” APPENDED WITH MY PREFACE & “FIVE-WORD FORMULA”. A manual handwritten by Li Yiyu, presented to his student, Hao He (Weizhen) – 1881, translated by Paul Brennan. Quelle: https://brennantranslation.wordpress.com/2013/05/25/the-taiji-classics/
  6. „When you intend to move you first think of it, then the body acts, in a way that you need to be aware of, otherwise you will not understand the process or the changes. So in every movement you must have the intention first, closely followed by your awareness. Wee Kee Jin, Important Points For Progress In Taijiquan, https://www.taijiquan-school-of-central-equilibrium.com/notes/important-points/
  7. Wu Yuxiang, ebd.
  8. Wee Kee Jin, Practising the Classics, https://www.taijiquan-school-of-central-equilibrium.com/notes/practising/
  9. Woher diese Praxis kommt oder wer sie einführt, ist nicht bekannt. Meine erste Berührung mit dieser Praxis ist der Aufsatz von Jian Xiong, The Importance of Ding Shi Practice in Tai Chi Training in http://www.taichiuni-on.com/articles/ding_shi.php, sowie ihre Videoclip auf youtube https://www.youtube.com/watch?v=t6ZFGMnF-Si8 und https://www.youtube.com/watch?v=S5pmXuBeV9o . Jian Xiong (sie) praktiziert Wu-Stil in der Linie Wu Jianquan – Wu Tunan – Li Lian. Einen Hinweis, dass die Yangfamilie diese Praxis in Training benutzt, finde ich in Yang Family Tai Chi Diskussion Board: http://www.yangfamilytaichi.com/phpBB3/viewtopic.php?f=4&t=437
  10. „As for practicing other postures in this way (als Zhàn-Zhuāng – JS), any posture from the solo set can be used for this method of training. This kind of single posture practice lasted from ancient times up to Yang Jianhou in the last years of the Qing Dynasty, everyone using it in the instructing of students, and so its significance is clear.“, Chen Yanlin, TAIJI BOXING ACCORDING TO CHEN YANLIN, https://brennantranslation.wordpress.com/2014/03/18/taiji-boxing-according-to-chen-yanlin/
  11. Wee Kee Jin, Tàijíquán Wú wéi – Ein natürlicher Prozess, aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt von Hella Ebel und Marco Pohl, Osnabrück, 2005, S. 13 f. S. a. Wee Kee Jin, Important Points For Progress IN Taiji-quan, https://www.taijiquan-school-of-central-equilibrium.com/notes/important-points/
  12. Louis Swaim, Translator’s Introduction in: Fu Zhongwen, Mastering Yang Style Taijiquan, translated by Louis Swaim, Blue Snake Books, 2006, p. Xix
  13. Li Yiyu, ebd.
  14. Bezogen auf „allowing the sensation to complete“, s. Anm. 15
  15. „In the first stage of training with sinking in the Form, the student learns to sink into posture by getting into position then allowing the sensation to complete, before issuing and moving into the next posture.“ Wee Kee Jin, Important Points For Progress In Taijiquan. (Hervorhebung von mir –JS)
  16. Chen Weiming, The Art of Taiji Boxing, 1925, translated by Paul Brennan, 2012, Quelle: https://brennantranslation.wordpress.com/2012/03/21/the-art-of-taiji-boxing-taiji-quan-shu/
  17. In Song of the Thirteen Postures heißt es: „When the tailbone is centered and straight, the shen [spirit of vitality] goes through to the headtop.“ S. http://www.scheele.org/lee/classics.html#songof13
  18. S. Diepersloot, Jan, Warriors of Stillness, S. 9 ff.
  19. Ebd.
  20. S. Cheng Man Ch’ing, Cheng Tzu’s Thirteen Treatises on T’ai Chi Ch’uan, S. 89; Wee Kee Jin, Tàijíquán Wúwéi – Ein natürlicher Prozess, S. 45
  21. S. Li Yiyu, a.a.O.
  22. S. Merkl, Stefan, Chinesische Philosophie in den Kampfkünsten, 2009, in http://www.kungfu-marburg.de/pa- ges/de/sagd-schueler/artikel/kampfsport-und-philosophie.php#_ftn10
  23. Kelly, Patrick, Singapore 50th Anniversary Article, http://patrickkellytaiji.com/WHOAMI/PK/ENsingaporear- ticlepk.html
  24. S. https://en.wikipedia.org/wiki/Ground_reaction_force und https://de.wikipedia.org/wiki/Sprungkraft
  25. Wu Yuxiang, in Li Yiyu, a.a.O.
  26. Tàijíquán Wúwéi – Ein natürlicher Prozess, S. 44 f.
  27. Sigman, Mike, Qi of Martial-Arts and Qi of TCM: Reconciliation, in seinem Internal Strength Blog, http://mikesigman.blogspot.de/2015/
  28. Zusammen mit schon genannten drei äußeren Harmonien bilden sie dann die sechs Harmonien (liù hé – 六合). Diese sechs Harmonien wurde Dai Longbang(1732?–1801) zugeschrieben, einem chinesischen Meister des Xinyiquans bzw. Xin Yi Liu He Quans, der sie im Jahr 1750 niedergeschrieben haben sollte. S. http://www.shen-wu.com/hsingi.htm ; http://www.qigong-fortbildung.de/artikelarchiv/taijiquan/die-sechs-harmonien.html.
  29. Mike Sigman in einem Interview mit Cornelia Gruber-Bilgeri in
    https://www.taichichuan-cornelia.com/en/assets/docs/interview_mike_sigman_english.pdf
  30. „All movement originate from an activating impetus. […] All movement produces momentum that can, if unimpeded, provide additional impetus for further movement.“ Cheng Man-Ch’ing, Master Cheng’s New Method of Taichi Ch’uan Self-Cultivation, S. 25 f. In einer anderen Stelle „The excess energy of any movement is called momentum. Before this momentum dissipates, direct it toward the next movement. The true key to successful taichi is channelling the momentum of any movement to the next posture. Apply your energy cyclically from movement to momentum, and back to movement.“, ebd., S. 42.
  31. Bildquelle: Dieperslot, Jan, Warriors of Stillness, S. 76
  32. Cheng, Man Ch’ing, Cheng Tzu’s Thirteen Treatises on Taichi Ch’uan, S. 38 f.
  33. S. Cheng Man-ch’ing and Robert W. Smith. ‘T’ai Chi. The “Supreme Ultimate” Exercise for Health, Sport, and Self Defense’. Tuttle Publishing 2004, pages 101-105.
  34. Zhang Yun, Jin in Taijiquan: „Sometime, jin does not mean force, but ability. For example, in Taiji Quan, we have ting jin, yin jin, sui jin, etc. Ting means listening. Ting jin means ability in the area of sensitivity. It is listening with our body, knowing from touch what our opponent is trying to do. All Taiji Quan skills are based on this ability. Quelle: http://www.ycgf.org/Articles/TJ_Jin/TJ_Jin1.html